Die FDA, die amerikanische Behörde, die für die Zulassung von Medikamenten zuständig ist, hat am 16.7.2012 überraschend das Medikament Truvada zum Einsatz für die medikamentöse Prävention, die sogenannte PräExpositionsprophylaxe (PrEP), zugelassen. Dieser Schritt wurde in der Presse als großer Schritt in der Bekämpfung der Weiterverbreitung von HIV gefeiert. Aber worum geht es dabei und wie ist dieser Schritt wirklich zu bewerten?
PräExpositionsprophylaxe heißt einigermaßen wörtlich übersetzt: vorbeugende Medikamenteneinnahme vor dem Kontakt mit dem Krankheitserreger. Hier geht es also nicht um Behandlung einer vorhandenen Krankheit oder Infektion, sondern um eine Medikamentenvergabe an gesunde, HIV-negative Menschen mit dem Ziel, dass sich diese nicht mit HIV anstecken. Das Medikament Truvada ist also nicht neu, sondern seit Jahren in der Behandlung der HIV-Infektion im Einsatz, lediglich die Erweiterung seines Einsatzes auf die vorbeugende Vergabe an gesunde Menschen ist neu.
Wichtig: Die FDA betont, dass die tägliche Einnahme einer Tablette des Medikaments Truvada nicht ausreicht, um sich zu schützen, sondern lediglich als zusätzliche Maßnahme Teil einer Gesamtstrategie sein kann, die besteht aus
- der täglichen Einnahme von Truvada
- Safer Sex mit dem Gebrauch von Kondomen
- Beratung, wie Risiken reduziert werden können
- regelmäßigen HIV-Tests
- Behandlung anderer sexuell übertragbarer Infektionen
Die FDA betont auch, dass die PrEP in erster Linie gedacht ist für Menschen, die laufend hohe Infektionsrisiken eingehen.
Prinzipiell ist gegen die Idee einer medikamentösen Vorbeugung sicherlich nichts einzuwenden – sie wird seit vielen Jahren zum Beispiel bei der Malariaprophylaxe erfolgreich angewandt: wer in ein malariagefährdetes Land reist, kann sich mit einer vorbeugenden Medikamenteneinnahme für die Dauer der Reise (Medikamenteneinnahme in der Regel auch mehrere Wochen vorher und nachher) vor der Malaria schützen.
Die Grundfragen, die gestellt und beantwortet werden müssen lauten aber:
- Wir gut schützt die PrEP vor einer HIV-Infektion?
- Gibt es schädliche Folgen oder Gefahren, die eventuell den möglichen Nutzen aufwiegen?
Wie gut schützt also die PrEP vor einer HIV-Infektion?
Die PrEP alleine, also die tägliche Einnahme von Truvada, schützt nicht besonders gut vor einer HIV-Infektion. Die FDA verweist auf zwei Studien, die einen Schutzfaktor von 42 % und 75 % ergaben. Dies zeigt, dass die PrEP in der derzeitigen Form auf gar keinen Fall als alleiniges Mittel der Prävention missverstanden werden darf! Die tägliche Einnahme von Truvada muss also mit dem konsequenten Gebrauch von Kondomen und anderen Safer-Sex-Maßnahmen kombiniert werden, wenn die PrEP erfolgreich sein soll!
Übrigens: Eine Studie mit Truvada bei Frauen in Afrika hat keinerlei Erfolg ergeben und die Analyse der Studie legt den Verdacht nahe, dass die Frauen das Medikament nicht regelmäßig eingenommen haben. Es wundert daher nicht, dass keine Schutzwirkung festzustellen war. Was so banal klingt zeigt jedoch ein grundlegendes Problem jeder Medikamenteneinnahme: selbst bei HIV-Infizierten, für die das Medikament überlebensnotwendig ist, passiert es häufig, dass die Medikamenteneinnahme vergessen wird. Bei Gesunden, die das Medikament „lediglich“ vorbeugend einnehmen, ist ein „Vergessen“ also eher noch häufiger zu erwarten. Die oben genannten eher niedrigen Erfolgsraten von 42 % und 75 % liegen ebenfalls zum Teil an einer fehlerhaften Medikamenteneinnahme.
Die PrEP ist also von der FDA lediglich zugelassen als eine zusätzliche Maßnahme, die den Schutz zusätzlich zu Safer Sex und Kondomgebrauch noch verbessern soll.
Gibt es schädliche Folgen oder Gefahren, die eventuell den möglichen Nutzen aufwiegen?
- Das Hauptargument gegen Truvada als Mittel der Prävention ist sicherlich die
Tatsache, dass jedes Medikament neben der beabsichtigten Wirkung ungewünschte Nebenwirkungen auslöst. Auch wenn Truvada gemeinhin als verträgliches Mittel unter den HIV-Medikamenten gilt, so ist doch die Liste der möglichen Nebenwirkungen erheblich: allgemeine Nebenwirkungen, wie Kopfschmerzen, Schwindelgefühl, Erbrechen, Bauchschmerzen, Verdauungsstörungen und Durchfall, Schlafstörungen und abnorme Träume, Leberentzündungen, Knochenschmerzen und Nierenversagen (keine vollständige Aufzählung). Auch wenn diese Nebenwirkungen lediglich möglich sind und nicht auftreten müssen, stellt sich doch die ethische Frage, ob es gerechtfertigt ist, viele gesunde Menschen mit Nebenwirkungen zu belasten, um bei einigen wenigen eine HIV-Infektion zu vermeiden.
- Eine mögliche Gefahr ist das Missverständnis, dass Truvada nicht gemeinsam mit, sondern anstelle von Safer Sex und Kondomgebrauch eingesetzt wird. Wenn aber die PrEP dazu führt, dass die Pillen anstelle von Kondomen verwendet werden, dann droht die Konsequenz, dass sich im Laufe von Monaten und Jahren der größte Teil der Anwender mit HIV infiziert und die Infektion im Einzelfall lediglich mehr oder weniger verzögert wird. Die PrEP würde dann nicht zu einer Hemmung, sondern zu einer Beschleunigung der Weiterverbreitung von HIV führen.
- Eine weitere mögliche Gefahr liegt darin, dass die vorbeugende Einnahme von Truvada
im Versagensfall dazu führen kann, dass sich jemand neu ansteckt und das Virus eine Resistenz gegen Truvada entwickelt, bevor die Neuinfektion entdeckt und die Truvadaeinnahme gestoppt wird. Truvada ist ein Kombinationspräparat, bestehend aus zwei Wirkstoffen und wird seit vielen Jahren in der Behandlung der HIV-Infektion eingestezt, aber immer in Kombination mit mindestens einem weiteren Präparat. Dies geschieht, weil sonst das HI-Virus sehr schnell eine Resistenz entwickeln kann und die gegebenen Medikamente an Wirksamkeit verlieren. Wenn also Truvada alleine als Vorbeugungsmedikament gegeben wird, kann es sein, dass durch die PrEP eine Resistenzentwicklung eingeleitet wird und damit Truvada später als Behandlungsmedikament nicht mehr zur Verfügung steht.
- Ein weiteres Problem der vorbeugenden Medikamentenvergabe ist eine Medizinalisierung der Sexualität: Wer sexuelle Kontakte mit anderen Menschen haben will, muss sich zuerst untersuchen lassen, ob HIV oder andere sexuell übertragbare Infektionen vorliegen und behandelt werden müssen, außerdem müssen Nieren- und Knochenprobleme ausgeschlossen werden. Erst wenn sexuell übertragbare Infektionen nicht vorliegen oder bereits behandelt sind und Nieren- und Knochenprobleme verneint werden können, kann ihm die PrEP verschrieben werden.
Für die Dauer der PrEP gilt, dass
- alle drei Monate ein HIV-Test gemacht werden muss,
- alle drei Monate Überprüfung von Risikoverhalten und bei Bedarf Beratung, Frage nach Symptomen anserer sexuell übertragbarer Infektionen,
- alle 6 Monate Tests auf weitere sexuell übertragbare Infektionen,
- laufend Bluttests zur Überprüfung verschiedener Blutbestandteile, um mögliche gefährliche Nebenwirkungen von Truvada rechtzeitig zu erkennen.
Dieses Prozedere ist nicht leicht mit der Vorstellung einer lustvollen Sexualität zu vereinbaren und legt daher die Befürchtung nahe, dass nicht die Menschen mit hohen Risiken, sondern in erster Linie Menschen mit großen Infektionsängsten angesprochen werden, also die eigentliche Zielgruppe verfehlt wird.
5. Zuletzt ist als möglicher Schaden natürlich der finanzielle Schaden zu nennen, der durch eine teure Medikamentenvergabe ausgelöst wird. Es stellt sich ernsthaft die Frage, wer die ca. 1000 Dollar bzw. 800 Euro pro Monat bezahlen soll, insbesondere, wenn der Erfolg nicht gesichert ist.
Zusammenfassende Beurteilung:
Die Idee der PrEP ist gut und sollte weiterentwickelt werden, aber derzeit erscheint sie mir noch nicht ausgereift genug und der große Wurf ist es schon gar nicht.
Sicher: wenn jemand, der oft sexuelle Kontakte mit potentiell HIV-infizierten Menschen eingeht, sich an die Vorgaben hält und zusätzlich zur PrEP konsequent Safer Sex anwendet, dann würde sein Risiko einer HIV-Infektionen sinken. Ich halte es aber für unplausibel, dass sich viele Menschen auf die intensive medizinische Begleitung ihres Sexuallebens einlassen werden, denn die Erfahrung zeigt, dass schon der bloße Kondomgebrauch von vielen Männern als zu starke Einschränkung ihres Sexuallebens empfunden und oft unterlassen wird. Die Gefahr besteht also darin, dass die PrEP mißbräuchlich verwendet wird, um das Kondom durch die Medikamenteneinnahme zu ersetzen. Das wäre fatal, denn dafür ist Truvada als Mittel der PrEP eindeutig zu schlecht. Unter diesem Aspekt wäre es mir eindeutig lieber gewesen, die FDA hätte mit ihrer Zulassung noch gewartet bis eine bessere PrEP zu Verfügung steht, d.h. eine PrEP, die mindestens die Sicherheit eines Kondoms (mindestens 95 %) aufweist, so dass der Mißbrauch der PrEP als Kondomersatz zumindest nicht zu einer Verschlechterung des Schutzes führt.
Es stellt sich für mich überhaupt die Frage, ob den Menschen eine Präventionsmethode einleuchtet, die bedeutet, dass sie ein Medikament schlucken sollen, das verhindern soll, dass sie nach einer HIV-Infektion genau dieses Medikament schlucken müssen – und das mit zweifelhaftem Erfolg. Dabei leistet die medikamentöse Therapie tatsächlich einen wichtigen Beitrag zur Prävention: wir wissen inzwischen, dass die medikamentöse Therapie der HIV-Infektion die Infektiösität der HIV-Infizierten fast vollständig beseitigt. HIV-Infizierte unter Therapie stecken andere nicht mehr an! Es scheint mir daher im Moment immer noch der bessere Weg, die Medikamentenvergabe auf die Infizierten zu beschränken und lieber Hemmnisse zu beseitigen, die verhindern, dass Menschen zum Test gehen bzw. als HIV-Positiver Zugang zur medizinischen Versorgung haben. Hier scheint mir gerade in Amerika vieles schief zu laufen, wo die HIV-Infektion immer mehr zum Problem der Armen und der schwarzen Bevölkerung wird.
Für uns in Deutschland setze ich daher andere Prioritäten:
- Aufklärung über HIV und die Übertragungswege und die Möglichkeiten der Prävention zur Stärkung präventiven Verhaltens
- Stärkung der Eigenverantwortung im Umgang mit den Risiken der HIV-Infektion
- Testkampagnen, um Menschen mit Risikoverhalten zum Test zu motivieren
- Antistigma-Kampagnen, um ein zentrales Hemmnis zu beseitigen, sich auf die Auseinandersetzung mit HIV und den HIV-Test einzulassen
- Hohe Standards in der medizinischen und psychosozialen Versorgung der HIV-Infizierten, damit jede Diagnosestellung begleitet wird von einer guten individuellen Versorgung (und vom gewünschten präventiven Nebeneffekt einer stark verminderten Infektiösität)
Wenn allerdings ein Weg gefunden wird, wie die PrEP besser und einfacher funktioniert, dann wird sie sicherlich auch in Deutschland eine wichtige Rolle in unserem Bemühen gegen eine Weiterverbreitung von HIV spielen.
Hans-Peter Dorsch, Leiter der Aids-Beratungsstelle Oberpfalz